Manifest „Achtet unsere Gewissensfreiheit!“

PARIS, 14. April. Der Nationale Freidenkerverband Frankreichs (Fédération Nationale de la Libre Pensée) hat sich mit einem Manifest

unter dem Titel „Achtet unsere Gewissensfreiheit!“ an alle Laizisten und ihre Verbände gewandt, da nach seiner Auffassung die Freiheit des Gewissens in Europa ernsthaft bedroht ist. Hier der Wortlaut des Appells:

Der „neue“ EU-Verfassungsvertrag befindet sich derzeit in den 27 Ländern der Europäischen Union im Stadium der Ratifizierung. Doch dieser Vertrag ist ein Instrument zur Umsetzung eines Europas der Kirchentürme, das die Religionen zu Mitentscheidern und Mitgesetzgebern der Europäischen Union machen wird. Nach Artikel 16-C der EU-Verfassung erhalten Kirchen und Religionen einen privilegierten Status, der es ihnen ermöglichen wird, wichtige Entscheidungen der Europäischen Kommission und des Europäischen Parlaments zu beeinflussen.

Cujus regio, ejus religio (1)

Artikel 16-C zementiert unter Einbeziehung der Besonderheiten der jeweiligen nationalen Gesetzgebung auch zukünftig alle antidemokratischen Privilegien der Kirchen in den Ländern der Europäischen Union. Der Verfassungsvertrag verbietet es den Menschen in betreffenden Ländern, Konkordate und Staatskirchen zu beseitigen und behindert die Menschen, sich für die Trennung von Kirche und Staat zu entscheiden.

Schlimmer noch, indem die Europäische Union durch die neue Verfassung den Status einer Rechtspersönlichkeit erhält, öffnet diese ihr die Tür zur Ratifizierung diplomatischer Verträge. Damit entsteht die Gefahr eines möglichen ökumenischen Konkordats auf gesamteuropäischer Ebene. Die Institutionalisierung der religiösen Herrschaft über alle Völker Europa kann so zur Realität werden.

Im Gegensatz zu einem Europa der Aufklärung, in dem sich die Menschen im Laufe der Jahrhunderte ihre Emanzipation erkämpft haben, will der europäische Verfassungsvertrag den Völkern für immer ein durch ihre Regierungen aufgezwungenes religiöses Gefängnis verpassen. Er übernimmt das Prinzip des Vertrags von Augsburg, der 1555 beschloss, dass die Völker unbedingt die Religion ihrer Fürsten haben sollen. Die Freidenker betonen daher, dass der Laizismus ein Garant für die Demokratie ist und dafür sorgt, dass Religion und Atheismus Privatangelegenheiten sind.

Wo bleibt die Achtung der Gewissensfreiheit der Bürger in den Ländern Europas, wenn man Religionen in den Rang offizieller Partner der Institutionen erhebt?

Nicolas Sarkozy, Führer der Gläubigen

In diesem Zusammenhang sollte man auch die tatsächliche Tragweite und tiefere Bedeutung der jüngsten Reden des französischen Präsidenten in Rom, Riad und in Paris beim Abendessen mit dem Rat der Vertreter jüdischer Institutionen in Frankreich (CRIF) begreifen.

In Rom erklärte Sarkozy: „Ein Mann, der glaubt, ist ein Mann, der hofft. Und das Interesse der Republik ist es, dass es viele Männer und Frauen gibt, die hoffen. Das langsame Aussterben der ländlichen Gemeinden, die geistige Wüste in den Vorstädten, das Wegfallen kirchlicher Gemeinden und der Mangel an Priestern haben die Franzosen nicht glücklicher gemacht.“
In Riad ergänzte der Präsident: „Ich kenne kein Land, dessen Erbe, Kultur oder Zivilisation keine religiösen Wurzel hätte. Ich kenne keine Kultur und keine Zivilisation, in der die Moral, selbst wenn sie viele andere philosophische Einflüsse enthält, nicht ein wenig religiösen Ursprungs ist ... Es ist vermutlich das Religiöse, das am stärksten das Universelle in den Kulturen ausmacht.“
Und beim Abendessen mit Vertetern des CRIF forderte Sarkozy, dass „unsere Kinder auch das Recht haben, zu einem bestimmten Zeitpunkt ihrer geistigen und religiösen Ausbildung Menschen zu begegnen, die sie für spirituelle Fragen und die Größe Gottes öffnen.“

Auf diese Weise verleiht der Präsident der Französischen Republik den Religionen einen exklusiven Status der Hoffnung und der Transzendenz. Er stellt Priester, Rabbis, Pastoren und Imame über die Lehrer, indem er die Religionen mit dem Mantel der Universalität ausstattet. Er fördert den Klerikalismus und das Primat des Religiösen gegenüber dem Politischen. Er konstatiert, dass es etwas weniger Atheisten und Freidenker als Gläubige gebe, und dass der Laizismus Tür und Tor dem Totalitarismus öffne.

Wo bleibt die Achtung der Gewissensfreiheit angesichts einer solchen Geringschätzung?

Die erste Gleichheit ist die der staatlichen Institution

Der französische Freidenkerverband hat 2006 in einer laizistischen Studie, der niemand widersprochen hat, festgestellt, dass jährlich mehr als 10 Milliarden Euro an öffentlichen Geldern als finanzielle Unterstützung für die Religionen und ihre Werke veruntreut werden. Im Widerspruch zum demokratischen Prinzip der Republik, wonach alle Kinder das Recht auf eine Ausbildung in öffentlichen Schulen haben, finanzierten mehrere Regierungen insgesamt 200.000 Stellen bei privaten, hauptsächlich katholischen Bildungseinrichtungen auf Kosten der säkularen Schule. Alle Regierungen der seit 1958 bestehenden Fünften Französischen Republik haben in übertriebener Weise die Konkurrenten der öffentlichen Schule gefördert und ihr bewusst die Mittel für eine qualitativ hochwertige Bildung entzogen.

Wo bleibt die Achtung der Gewissensfreiheit, wenn man Eltern zwingt, ihre Kinder in Privatschulen zu schicken?

Heute die Friedhöfe und morgen die Städte?

Die Trennung von Kirche und Staat und die absolute Achtung der Gewissensfreiheit sind das völlige Gegenteil von dem, was das Rundschreiben der Ministerin für Inneres vom 19. Februar 2008 enthält. Darin werden die Kommunen angehalten, Abschnitte nach religiösem Merkmal auf den kommunalen Friedhöfen einzurichten. Ungeachtet aller republikanischen und laizistischen Gesetzesvorschriften will Frau Alliot-Marie auf Anordnung des Präsidenten das Gesetz vom 9. Dezember 1905 beseitigen. Das zeigt deutlich das Bestreben der Regierung, den säkularen Status der Institutionen abzuschaffen. Denn das Rundschreiben der Ministerin hebt de facto das Gesetz vom 14. November 1881 auf, welches die konfessionelle Aufteilung der Friedhöfe untersagt, sowie Artikel 28 des Gesetzes von 1905, der alle kollektiven religiösen Zeichen auf Friedhöfen verbietet.

Soll mit der Gründung von „religiösen Ecken“ auf Friedhöfen auch die Idee von Massengräbern für Ungläubige wiederbelebt werden? Die Frage ist berechtigt, denn offiziell wird dieses Vorhaben mit der „Förderung der Integration der ausländischen Bevölkerung“ begründet. Handelt es sich hierbei um die Entwicklung des Kommunitarismus (2) in der Gesellschaft, indem man ihre Bevölkerung auf der Grundlage des sogenannten Multikulturalismus spaltet?

Was bleibt von der Gleichheit vor dem Tod und der Achtung der Gewissensfreiheit? Der Laizismus ist die Kunst, jenseits aller Unterschiede und in gegenseitiger Achtung zu leben und zu sterben. Soll man in Zukunft akzeptieren, dass der Tod etwas trennt, was das Leben vereint hat? Vorerst wird der Laizismus nur auf den öffentlichen Friedhöfen ernsthaft in Frage gestellt - und morgen?

Die Freidenker erinnern daran, dass der Laizismus die Grundlage für die bürgerliche Beerdigung und die Säkularisierung der Friedhöfe bildet. Die Achtung der Gewissensfreiheit der Verstorbenen darf nicht mit kommunitaristischen Füßen zertreten werden, aus welchen Motiven und Begehrlichkeiten auch immer.

Wo bleibt die Achtung der Gewissensfreiheit, wenn man Verstorbene in Gruppen nach zweifelhafter und voreingenommener Zugehörigkeit unterteilt?

Kommunitarismus vs. Demokratie

Das Gesetz zur Trennung von Kirche und Staat aus dem Jahr 1905 beinhaltet die absolute Achtung der Gewissensfreiheit aller Bürgerinnen und Bürger und es schreibt die Trennung von öffentlicher und Privatsphäre vor – ganz im Gegensatz zum Kommunitarismus, der in Großbritannien, insbesondere durch das Primat der anglikanischen Kirche, die Einführung der Scharia im britischen Gemeindegesetz ermöglichte. Und auch im Unterschied zu der in „Säulen“ (katholische, protestantische, jüdische, muslimische und weltliche) gegliederten Gesellschaft Belgiens, wie sie einige in Frankreich unter dem Schlagwort des „offenen, pluralistischen“ oder neuerdings auch des „positiven“ Laizismus fordern.

Der Nationale Freidenkerverband erinnert daher an die Worte seines früheren Manifests zum 100. Jahrestag der Verabschiedung des Gesetzes zur Trennung von Kirche und Staat:

„Die Demokratie gebietet es, dass die Republik nur Bürger und nicht Gemeinschaften anerkennt. Das ist die grundlegende Voraussetzung für eine wirkliche Gewissensfreiheit. Doch im Gegensatz zu diesem Prinzip werden wir Zeugen einer gewaltigen Offensive, die den Kommunitarismus in unserem Land institutionalisieren will.
Der Kommunitarismus kennt keine Bürger, er organisiert nur Subjekte. Im Zusammenhang mit einer vorausgesetzten und unumgänglichen Gruppenzugehörigkeit ersetzt er den Begriff der Rechte durch den der Pflichten. Und wehe dem, der nicht den Verpflichtungen aller Art, die in die Zuständigkeit dieser Gruppe fallen, nachkommt!
Als die Republik ein weiteres Mal 1870 gegründet wurde, als sie sich in den Jahren 1877 und 1879 erneut bestätigte, hat sie durch ein und dieselbe Emanzipationsbewegung den Laizismus der Schule und des Staates begründet. Sie verkündete als unverrückbaren Grundsatz die Achtung der absoluten Gewissensfreiheit.
Zugleich erkannte sie 1884 die völlige Freiheit der Gewerkschaften an, d. h. das Recht der Arbeiter, sich in völliger Unabhängigkeit für die Verteidigung ihrer Interessen gegen die der Ausbeuter zu organisieren. Sie bestätigte in derselben Zeit auch die volle Handlungsfreiheit politischer Parteien, ohne die es keine echte Demokratie geben kann.
Der Kommunitarismus, egal welcher Art (religiös, ethnisch, sprachlich, geschlechtsspezifisch usw.), ist von Natur aus gegen Demokratie, Laizismus und die Republik. Er sperrt Menschen ein, statt sie zu befreien. Aber der Begriff der Gruppen steht auch im Widerspruch zur Existenz sozialer Klassen, deren Interessen sich entgegenstehen.“

Wo bleibt die Achtung der Gewissensfreiheit, wenn die Mächtigen dieser Welt die Menschen in „Zugehörigkeitsgruppen“ einsperren wollen?

Für die Einhaltung der absoluten Gewissensfreiheit fordern die Freidenker:

  • Die Aufhebung des Artikels 89 des Gesetzes vom August 2004 (der die öffentliche Finanzierung der privaten Schulen verschlimmert)!
  • Die Aufhebung des klerikalen Statuts von Elsass-Lothringen!
  • Die Aufhebung aller antilaizistischen Gesetze!
  • Die Anwendung des Grundsatzes: „Öffentliche Mittel nur für die öffentliche Schule“!
  • Die Restaurierung des Gesetzes von 1905!
  • Keine Finanzierung von Kultusaktivitäten, insbesondere beim Besuch des Papstes!
  • Bruch der diplomatischen Beziehungen mit dem Vatikan, der kein Staat ist!

Paris, 13. April 2008

Postskriptum:
Am 14. September wird ein internationales säkulares Treffen in Paris gegen die öffentliche Finanzierung des Papstbesuches und für den Laizismus in Europa veranstaltet. Bei dieser Gelegenheit werden die französischen Freidenker allen anwesenden Organisationen vorschlagen, eine Delegation zu bilden. Diese soll beim Präsidenten der Französischen Republik, der ab 1. Juli 2008 den EU-Vorsitz innehaben wird, um Audienz bitten und ihn fragen, was er zu tun gedenkt, damit Frankreichs Laizismus durch die EU-Gesetzgebung nicht in Frage gestellt wird, und wie er diese Forderung in den anderen Ländern unterstützen will.

Übersetzung: Rudy Mondelaers

Quelle: http://librepenseefrance.ouvaton.org/spip.php?article204

-----
(1) „Wem das Gebiet gehört, dem gehört die Religion“, siehe hierzu
(2) Der Kommunitarismus sieht als Ursache der Krise moderner Gesellschaften einen von der Ideologie des Neoliberalismus geförderten Individualismus, der zu Erscheinungen wie Entsolidarisierung, Werteverfall, Legitimitäts-, Identitäts- und Sinnkrisen führe. Als Lösung fordert der Kommunitarismus die Rückbesinnung auf die Bedeutung und den Wert der Gemeinschaft (community). Er wird in Frankreich dafür genutzt, um die Einstellungen oder den Lebensstil einer Minderheitengemeinschaft zu definieren, die - im Namen des Rechts auf Unterschiede - die Prinzipien der Gleichheit und des Laizismus der Französischen Republik nicht anerkennen will. Daher wird der Kommunitarismus als Gefahr für die Freiheit und die Menschenrechte betrachtet. Die Menschenrechte werden als strikt individuelle Rechte und die kollektiven Rechte der Minderheiten als Instrumente individueller Unterdrückung gesehen.